Infografik zwischen Versprechen und Perspektive

Infografiken erfreuen sich ungebrochener Beliebtheit, alles neu im Netz mit Hilfe von Big Data und  deren Transfer in Grafiken. Ganz so neu ist das alles nicht; Jan Schwochow zerpflückt den Hype um »Ultramodernes«, das schon längst existiert, aber erst durch schnelle Vernetzung verstärkt in den Fokus medialer Aufmerksamkeit geriet. Verändert haben sich für den Designer - im Gegensatz zur Darstellung von Daten - vor allem die zugrunde liegenden Datenmengen, der Zugang dazu sowie technologische Hilfsmittel, die neue Formen von Datenvisualisierung ebenso ermöglichen wie schnellere Ergebnisse. 

Rückblende 25 Jahre früher: Jan Schwochow arbeitete als Redakteur beim STERN, experimentierte mit Darstellungsformen, mit Schriftsatz und »lernte, Geschichten zu erzählen«. Für ihn der Grundstock, mit Infografiken und erzählerischer Leidenschaft Geschichten aus Technik, aktuelles Weltgeschehen, Politik und Wissenschaft aufzustöbern und umzusetzen; seit 2007 tut er das mit seiner eigenen Firma, deren Arbeiten in zahlreichen Wettbewerben ausgezeichnet wurden und zum Teil im von Schwochow herausgegebenen Buch »Deutschland verstehen« erschienen sind. Zum überwiegenden Teil besteht seine Arbeit übrigens aus Recherche in Bibliotheken und undigitalen Informationen, deren wichtigster Aspekt  ist die Vertrauenswürdigkeit von Quellen, die Jan Schwochow nicht unbedingt im Internet verortet. Der Infodesigner macht seinem Beruf eine wunderbare Liebeserklärung: »Wenn man einmal so etwas angefangen hat, kann man nicht mehr damit aufhören. Have fun making infographics!« 

Auf eine Zeitreise nimmt auch der Wiesbadener Designer Thilo von Debschitz das Publikum mit: Vor rund 90 Jahren prägt die dritte industrielle Revolution mit ihren technischen Innovationen das städtische Leben in Berlin. In den 1920er Jahren entsteht ein flächendeckendes Telefonnetz, nie hat es mehr Tageszeitungen gegeben als zum Ende der Weimarer Republik, neue Medien erobern den Alltag – mit regelmäßigem Radiobetrieb, einer Vielzahl von Kinos. Das Kommunikationsverhalten ändert sich grundlegend. In Berlin lebt damals der Dr. Fritz Kahn, der nach seinem Medizinstudium und neben seiner Arbeit als Arzt fünf populärwissenschaftliche medizinische Bücher schreibt, die mit insgesamt 1200 Abbildungen illustriert sind. Für den Arzt setzen Architekten, Zeichner, Maler seine Ideen um, in denen sich der technische Fortschritt seiner Zeit wiederfindet. 

Körperliche Prozesse werden wie Schaltverbindungen, Fließbandarbeit, technische Prozesse abgebildet; Arbeiter am Fließband demonstrieren die Formen und Funktionen von Geschmackswarzen der Zunge, Sehen und Verstehen bis hin zu Sprache wird übersetzt in ein Bild eines regelrechten »Kopfkinos«. Berühmt ist das Bild des menschlichen Körpers als modernes Industrieunternehmen aus Telefonzentrale (Nervenverbindungen), Röhren, Meßinstrumenten und Förderbändern für den Verdauungstrakt. Der Schöpfer dieser frühen Infografiken ist lange in Vergessenheit geraten; nach der Machtergreifung der Nazis wurde Fritz Kahn verfolgt, seine Bücher verboten und verbrannt. Infiziert vom »Kahn-Virus«, dem Humor und fantasievollen Charme von Fritz Kahns Werk, das noch heute wissenschaftliche Illustratoren und Infografiken beeinflusst, hat Thilo von Debschitz 2009 eine Fritz-Kahn-Monographie herausgegeben, die 2013 in einer erweiterten, überarbeiteten Neuauflage erschien. 

»Welterklärung braucht Bilder«, so umschreibt Haika Hinz, leitende Art Direktorin der  ZEIT, eine alte Kulturtechnik, die seit Jahrhunderten unseren Umgang mit Informationen und deren Verständnis prägt. Infografiken, das sind nicht nur die modernen Übersetzungen von Datenströmen, sondern auch Landkarten, wissenschaftliche Illustrationen und Zeichnungen früherer Jahrhunderte wie beispielsweise Goethes Farbkreise. Beim Transport schwieriger Informationen wie beispielsweise wirtschaftlichen Zusammenhängen setzt die Art Direktion der ZEIT auf ungewöhnliche Formen wie Comics. Illustrative Darstellungen ersetzen auch klassische Reflexe der Visualisierung: »Bitte nicht das hunderttausendste Windrad als Erklärung alternativer Energie«. Haika Hinz setzt dabei auch auf Kombinationen aus Grafik und Fotografie, Montagen aus Statistik-Kurven und Porträts vermitteln Aussagen über handelnde Figuren aus Politik und Wirtschaft. Klassische Formen des Storytelling wie Fotoreportagen ergänzen das Konzept visueller Informationsvermittlung, das teilweise feste redaktionelle Plätze vorsieht, aber auch ausreichend Spielraum für Text-Grafik-Kombinationen bietet. 


Auf den ersten Blick unnützes Wissen, auf den zweiten Blick spannende Fakten: Wie aus Puzzlesteinen der Information interessante Grafiken mit einer »Geschichte hinter der Geschichte« entstehen, zeigt Maximilian Nertinger in seinem Einblick in Software, Datensammlungen und -quellen nebst einigen aktuellen Beispiele. Projekte wie »Geteilte Inseln«, eine Rekonstruktion der Flugroute der malaysisches Flugzeugs MH-17 über der Ukraine und der Weg russischer Gaslieferungen von den Gasfeldern quer durch Pipelines und Länder in Europa belegen, welche Fehlerquellen in Datenmaterial verborgen sein können. Was in komplexen Zusammenhängen nicht immer unmittelbar auffällt, wird umso offensichtlicher, wirft man einen Blick auf Kartographien, die in manchen Nachrichtensendungen auftauchten: Hongkong liegt mitunter in Afrika, der Irak ist auf der Landkarte verrutscht – ans Mittelmeer.



Selbst Satellitendaten und -karten großer Netzdienstleister sind nicht vor Fehlern gefeit: Eine kleine mittelamerikanische Insel gehörte dort mal zu Nicaragua, mal zu Costa Rica. Erst durch eine offizielle Erklärung und Korrektur der Landesgrenzen konnte ein größerer militärischer Konflikt entschärft werden; die Anekdote belegt nicht nur, wie wichtig vertrauenswürdige, vor allem inhaltlich korrekte Quellen für die Arbeit der Informationsdesigner sind. Maximilian Nertinger verbindet die Integrität von Big Data auch mit der persönlichen Integrität derer, die für die Visualisierung sorgen: »Setzt Euch für Eure Geschichten und deren Korrektheit ein!«.



Eine schöne Überleitung zu Lisa Bornheimer und Sebastian Huber, die ihr gemeinsames Projekt Isomatic vorstellen: Entstanden während des gemeinsamen Studiums an der Universität Augsburg, automatisiert die Software die Darstellung von Isotype Grafiken. Diese spezielle Form der Infografik basiert auf drei formal reduzierten Layouttypen, die hohe Ansprüche an die Datenbearbeitung und den dafür nötigen zeitlichen Aufwand stellen. Die webbasierte Applikation Isomatic, die ausschließlich auf dem Desktop läuft, verarbeitet komplette Datensätze und übernimmt dabei einen großen Teil der manuellen Sortierungsarbeit. Im Software-Konzept der Informationsdesignerin Lisa Bornheimer und des Informatikers Sebastian Huber ergänzen sich inhaltliche und ästhetische Anforderungen (Gestaltung von Icons, Farbpaletten, Typografie der Ausgabe) mit technischem Knowhow der Programmierung (Verzicht auf CMYK-Unterstützung, zahlreiche Automatisierungen, Anbindung an gängige Programme wie InDesign). 



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