Herbert Lechner – Das Bordell gedruckter Leidenschaft: der Kiosk

Sie sind wohlvertraute Straßenbekanntschaften im Stadtbild, wir kennen sie aus Filmen, Romanen und Fotos von Robert Doisneau, Berenice Abbott und Weegee; die Protagonisten von »How I met your mother« bedienen sich ihrer Kulisse ebenso wie »Sex and the City« oder »Men in Black«. Unverzichtbar sind die Zeitungskioske im Stadtbild moderner Großstädte: Als Begegnungsorte, kleine Versorgungsstationen zum Verkauf von Erfrischungen, Zigarren, Zeitungen, die aus der eher ländlichen Idylle ins Zentrum der Metropolen wanderten.



Im besten Sinne des Wortes stand der Kiosk immer im Weg – an Plätzen, an denen viele Menschen unterwegs sind, als beiläufiger Ort in einer lebhaften Umgebung; und eng verbunden mit der Boulevardpresse und ihren Erzeugnissen. Aus der Privatheit heimischer Lektüre wurde öffentliches Lesen, erst der Kiosk hat vermutlich dafür gesorgt, dass die Ausrufer von einst verschwanden und durch »schreiende« Titelseiten ersetzt wurden. Er war Verlockung, Verführung, Erfüllung in einem: Als ehemals osmanisches Lustschlösschen (so die eigentliche Bedeutung des Wortes Kiosk) lieferte er recht ähnliches: Unanständige Lektüre, ungesunde Lebensmittel, schnelles Vergnügen – eigentlich, so Herbert Lechner, müsse man an diese Kulturgeschichte einen Soziologen dranlassen. 

Zwei unterschiedliche Grundformen sind zu unterscheiden: Lebensmittel von Currywurst bis Bier auf der einen Seite, auf der andere Seite eine breite Palette des Gedruckten. Überraschende Entdeckungen, Kaufwünsche, Zufallsfunde gehören ebenso zum Inventar des Kiosk wie seine ewig penetrant gut gelaunten Inhaber. Ob in New York oder in München, Kioske waren Begegnungsort, Ort eines kleinen Glücks, selbst in eher schlechten Zeiten wie der Nachkriegszeit in Deutschland. Es sind eigentümliche Stadtbiotope, in denen Kenner, Liebhaber und Fanatiker ihre Obsessionen der Printkultur ausleben. Und zugleich drohen diese Biotope auszusterben, steht gleichsam auf der Roten Liste: Sein Schicksal ist eng verknüpft mit dem Wandel der Verlags- und Medienlandschaft, mit sinkenden Auflagen und verschwindenden Publikationen, die Einzelverkäufe am Kiosk gehen zurück – und gleichzeitig wandeln sich die Zentren der Städte. 

»Die Bockwurst bringt bei gleichzeitig weniger Inhalt doch mehr als eine Zeitung.« frotzelt Herbert Lechner. Und so wird aus dem kleinen Einzelkiosk mitunter ein modernes Netzwerk so wie die Bahnhofskioske verschiedener Ketten, die bis zu 1500 der Verkaufsstationen betreiben, deren Hauptregel lautet: Was sich nicht verkauft, wird als Nullverkauf entsorgt – und fliegt aus dem Sortiment. So wird aus dem kleinen Häuschen mit charmantem Eigenleben und ganz eigener Artenvielfalt ein gleichförmiges Werk mit ebenso gleichförmigem Angebot, ob in Hamburg, München oder Berlin. Nichtsdestotrotz schaffen die Platzhirsche der Kioskbranche auch Raum für spezialisierte Exoten wie Soda, die ihren Kunden ein außergewöhnliches Sortiment ungewöhnlicher Druckerzeugnisse bieten. 

Das Verschwinden des Kiosks ist zugleich ein spannendes Kapitel der Kulturgeschichte über das Verschwinden gedruckter Vielfalt in der Digitalität. Ein Wandel, dessen weitreichende Auswirkungen Herbert Lechner in einer amerikanischen Mall erfuhr und als schmerzhaften Verlust einer wesentlichen Kultur empfindet: Der vermutete Zeitungskiosk entpuppte sich als Verkaufsstand für Handyhüllen und -taschen, Neugier, Überraschung und unerwartete Faszination einer »Straßenbekanntschaft« mit einer Zeitung bleiben dabei auf der Strecke. 

Herbert Lechner im Netz